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Das Jammerritual

Ich bin im Arsch. Nächste Woche ist der Velothon in Berlin und ich hab keine Antworten. Nun bin ich dies Jahr schon auf so vielen RTFs gefahren, habe die Mitfahrer vorm Start und nach der Zieleinfahrt ausgefragt, aber die Antworten habe ich selber schon soooo oft genutzt, das nimmt mir keiner mehr ab. Ich bin definitiv im Arsch.

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Wovon ich rede? Ihr seid keine Rennradfahrer oder? Es geht ums Jammerritual.

Vor jedem Start hört man eine Frage immer wieder: „Na, was haste dir so für ’ne Zeit vorgenommen?“ Noch schlimmer ist die Frage: „Na, heute persönliche Bestzeit knacken?“

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DAS ist der Grund, warum der Puls bei Rennradfahrern schon vor dem Start in die Höhe geht, und nicht die Aufregung vor dem Rennen (haha). Hab ich eine gute Antwort parat? Hab ich mir auch nicht versehentlich die Antwort vom letzten Rennen eingeprägt? Passt mein leidender Gesichtsausdruck zur Antwort?

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Wie jetzt, warum antwortet man nicht einfach ehrlich, hat man sich denn keine Zeit vorgenommen? NATÜRLICH hat man sich eine schnelle Zeit vorgenommen und will auch möglichst eine neue persönliche Bestzeit knacken, aber das kann man doch nicht sagen! Habt ihr schon mal am Start einen Rennradfahrer erlebt der folgendes gesagt hat? „Ja, ich bin super fit, das Trainingsprogramm habe ich voll einhalten können und ich war nicht einmal verletzt oder krank. Heute knacke ich meine persönliche Bestzeit.“ Vergesst es.

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Stattdessen sehen die Antworten eher so aus:

  • Hab kaum geschlafen, wollte schon absagen.
  • Ganze Zeit krank, konnte zwei Wochen nicht trainieren, aber dabeisein ist ja alles (haha, ne ist klar).
  • Seit zwei Tagen nur auf Toilette gesessen, fahr so lange mit wie’s geht.
  • Bin nicht so fürs Schnellfahren.
  • Der Weg ist das Ziel.

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Wenn dein Gegenpart am Start dann nickt, dann hat das nix mit Mitleid zu tun, sondern die Antwort kannte er schon. Wenn er die Augen aufreißt und ein „In Echt?“ erwidert, dann ist er überrascht, weil er die Antwort noch nicht kannte.

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Und im Ziel? Na ja, natürlich war man so schnell wie erwartet, meist noch schneller, aber freuen geht auf keinen Fall. Also so auf die Art: „Boah, geil, schneller als ich dachte. Persönliche Bestzeit getoppt.“ Hallo? Das geht gar nicht. Vielleicht noch freudestrahlend ins Ziel fahren? Haha, das machen nur Beginner.

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Nene, die innerliche Freude, wenn die Uhr im Ziel die neue Bestzeit anzeigt, transformiert man in Richtung Kopf in ein Augenverdrehen und Kopfschütteln. Kurz auf den Lenker hauen macht sich auch gut. Natürlich kommt auch hier wieder die Standardfrage im Ziel: „Na, zufrieden mit der Zeit?“ Innerlich sind wir natürlich stolz wie Oskar, aber bitte nicht nach außen. Antworten sollten ungefähr so aussehen:

  • Zeit ist ganz okay, hab aber nicht alles gegeben.
  • Bin fast nur im Wind gefahren, sonst wäre mehr drin gewesen.
  • Wollte nach der Erkältung, Verletzung (oder weiß der Geier) nicht so viel riskieren.
  • War leider in der falschen, zu langsamen Gruppe.
  • Krämpfe während der Fahrt haben mich leider immer wieder gebremst.

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Hilfreich ist nach dem Zieleinlauf auch der Griff an den Oberschenkel „Hmm, muss ich vielleicht doch mal zum Doc.“ Oder in die Hocke gehen und beim Blick auf die Schaltung laut (soll ja jeder verstehen) murmeln: „Hmm, irgendwas haut mit den hohen Gängen nicht hin; ab 50km/h habe ich immer ins Leere getreten, muss ich wohl mal bei.“

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Aber das hilft alles nix, wenn ich keine vernünftigen Satz nach dem Ziel über die Lippen bringe.

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Hmm, wie wär’s denn mit „Falsche Reifenwahl, zu viel Haftung hat mich gebremst.“ Oh nö, vielleicht wenn ich grobstollige MTB-Reifen aufgezogen hätte. “ Oder vielleicht „Wäre mehr drin gewesen, aber hab mich verfahren, bin 15km mehr gefahren.“ Ne, auch doof, die sehen ja meine STRAVA-Aufzeichnung. Oh ne, stellt euch vor, ich bin dann auch noch langsamer als letztes Jahr und muss zugeben, dass ich alles gegeben habe. Horror, geht gar nicht.

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Frag die Frau? Seid ihr irre? Die hält mich für balabala. Wäre ungefähr so, als wenn ich fragen würde, warum wir schon wieder zu IKEA fahren müssen. Würd ich mich auch nicht trauen.

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Kaum den Satz zuende gedacht, geht die Tür auf und meine Frau steht lächelnd hinter mir. (Jaaahaaa, ist mir klar, das ist nun mal der Vorteil an Geschichten, dass man Zufälle selber steuern kann.)

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„Du Schaaahaaatz, denkst du daran, dass wir heute zu IKEA wollen?“ Waaaah? Schon wieder? Wie jetzt, frag sie, warum sie da wieder hin will? Seid ihr bekloppt, ich weiß doch, dass es dafür keinen vernünftigen Grund gibt, also kann ich mir die Frage schenken. Bitte? Wer hat da feige Sau gesagt? Na gut. „Ikea? Heute? Warst du da nicht erst mit Gaby letzte Woche? Was willst ’n da schon wieder?“

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Meine Frau war überrascht. Große ungläubige Augen. Oh weia, wenn das mal kein Fehler war. War es nicht, denn in ihrem Kopf arbeitete es auffällig, um mir eine Antwort zu präsentieren. Die großen Augen blieben erst einmal und als Antwort kam aus ihrem Mund:“ Die Landschaft.“ Häää? „Wie jetzt ‚Die Landschaft‘?“

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Das war von ihr aus der Not geboren, aber jetzt fing sie sich wieder. Die Augenweite normalisierte sich und sie fing an zu lächeln. „Na ja, der Weg zu IKEA ist soooo wunderschön, da kann ich während der Fahrt so richtig schön die Landschaft genießen. Kein rasen, sondern gemütlich durch die Landschaft gondeln und die Natur in sich aufnehmen. Vielleicht können wir noch ein paar schöne Fotos machen?“ Dann drehte sie sich um und beim Türschließen sagte sie noch: „Und wenn wir dann eh bei IKEA sind, dann können wir auch nochmal durchlaufen.“ Bingo.

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Eine Woche später, 5 Minuten vor Start bei den Cyclassics. Kollege Arschgeige-Gerrit muss natürlich fragen: „Na Thomas, heute Bestzeit knacken? Hast doch bestimmt wie wild trainiert, hab ich bei STRAVA gesehen.“

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„Ne Gerrit, die Stecke heute ist soooo schön, da möchte ich einfach mal während der Fahrt die Landschaft genießen. Kein rasen, sondern gemütlich durch die Landschaft gondeln und die Natur in mich aufnehmen. Vielleicht nehme ich mir sogar die Zeit und mach ein paar Fotos.“

„Wah? In echt?“

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Im Ziel habe ich dann trotz Messer zwischen den Zähnen und Dauer-Maximalpuls meine Bestzeit knapp verpasst, aber ich hab ja auch „…drei Fotopausen gemacht, Landschaft war zu reizvoll, das hat natürlich Zeit gekostet…“.

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Leider sind die Bilder nix geworden, war wohl was mit der Speicherkarte. Ich bin aber auch ein Schussel 😀

Thomas Tremmel