Kurt 23 „Die Fototherapie“

Haben sie sich schon mal überlegt, was Sie zum Fotografieren gebracht hat? Erinnerungen festhalten, künstlerische Ader befriedigen, Freude an Bildern usw. Es gibt bestimmt hundert verschiedene Gründe, aber von diesem hier, der auf dem Schild vor mir steht, haben Sie bestimmt noch nie gehört.

Ich bummelte gerade durch die Hamburger City. Sie wissen schon, neue T-Shirts, bisschen in den Buchläden stöbern, lecker Fisch essen gehen. Mein Familie ist zur Schwiegermutter, da muss ich das einfach mal ausnutzen. Ich bin kaum aus der S-Bahn raus, da fällt mir ein Schild neben einem sehr gepflegtem Eingangsbereich auf. So eine Art übergroßes Ärzteschild. Eine abgebildete Kamera in der linken oberen Ecke erweckte mein Interesse. Ich trat näher und las:

Schlecht drauf? Immer frustriert? Eine Depression nach der anderen? 

Kein Problem, fangen Sie an zu fotografieren und lassen Sie den Loser endgültig hinter sich.

Werden sie Mitglied in der

F.C.

und wir werden Ihnen helfen.

Holen Sie sich gleich ihre erste kostenlose Sprechstunde.

Ihr Dr. Pinsel-Bauch

Leiter Fussel Coments

Hmm, da meint man, man hat schon alles über Fotografie gehört, und dann dies. Wenn ich’s mir recht überlege, ich habe Zeit, ich bin neugierig und außerdem ist es kostenlos. Ich muss unbedingt wissen, um was es da geht. Also, nichts wie durch die Tür.

Im 6. Stock stand dann an einer ein Glastür „Fussel Coments“ und ich trat ein. Machte alles einen sehr feinen Eindruck. Nicht wie eine Arztpraxis, sondern eher wie so eine feine Abteilung aus den amerikanischen Filmen mit Vorzimmerdame und so. Ich ging also auf die Vorzimmerdame zu. Sie lächelt mich an und sagte: „Willkommen bei Fussel Coments. Was kann ich für Sie tun?“

„Äh, ich habe Ihr Schild draußen gelesen und wollte mich für eine kostenlose Sprechstunde anmelden.“

„Da haben Sie aber Glück, es hat gerade ein User abgesagt, so dass Sie gleich durchgehen können.“

Ich schaute sie etwas verdutzt an und fragte: „Äh, User?“

„Ja, wir nennen unsere Kunden nicht Patienten sondern User. Gehen Sie einfach dort durch die Tür.“

Ich wolle die Türklinke gerade in die Hand nehmen, da wurde sie von Dr. Pinsel-Bauch bereits geöffnet. „Ah, ein neuer User. Treten Sie ein, treten Sie ein. Nehmen Sie Platz.“

Als ich Dr. Bauch-Pinsel sah, wusste ich bereits, dass es ein Fehler war hierher zu kommen. Er hatte einen weißen Kittel über seinen Anzug an, goldene Uhr am einen Arm, Goldkettchen am Anderen. Dazu eine Brille mit Goldfassung, die im oberen Bereich grün getönt war. Außerdem satt Pomade im Haar. Ich fühlte mich hier nicht wohl.

„Ich seh schon, Sie sind schlecht drauf, oft frustriert, haben Depressionen. Keiner will mit Ihnen was zu tun haben, Sie haben keine Freunde, Sie sind ein Loser.“

Ich überlegte kurz, ob ich ihm einen Grund für einen neuen Satz Goldzähne geben sollte, aber ich wollte das Spiel ja mitspielen, also nickte ich.

Das Grinsen von Dr. Pinsel-Bauch wurde breiter. „Wusste ich’s doch. Sie erhalten nie Aufmerksamkeiten, keiner lobt Sie. Auf Deutsch; es interessiert sich kein Schwein für Sie.“

Er schaute mich mit fragenden Augen an, wartete aber gar nicht erst eine Antwort ab. „Sagen Sie nichts, Sie sind nicht der erste Fall. Mir rennen Leute wie Sie die Bude ein, aber Ihre Sorgen können ab heute der Vergangenheit angehören. Mit unserer Fototherapie bekommen wir das hin.“

Jetzt schaute ich ihn verdutzt an und fragte: „Ach, und wie soll das funktionieren?“

„Ganz einfach, fangen Sie an zu fotografieren und kommen sie in die Welt der F.C.“

Aha, so einfach ist das. „Verstehe ich nicht, wie soll das funktionieren.“

„Das ist ganz einfach. Die F.C. ist eine Plattform im Internet, wo jeder User seine Bilder hochladen, bewerten und kommentieren lassen kann. Das Gleiche können Sie natürlich auch machen.“

Ich unterbrach ihn. „Da ist schon mal das erste Problem. Ich habe nur so eine kleine billige Kompaktknipse und überhaupt keine Ahnung vom Fotografieren.“

Dr. Pinsel-Bauch fing an zu lächeln. „Wer sagt denn, dass Sie fotografieren können müssen? Machen Sie’s wie die anderen User auch, nehmen Sie einfach ihre letzten Urlaubsbilder, Ihre Katzen- und Kinderbilder und laden die alle hoch.“

„Ja aber, die sind doch alle so schlecht, da wird man mir ja den Kopf abreißen.“

Dr. Pinsel-Bauch lehnte sich entspannt zurück. „Keiner wird Ihnen den Kopf abreißen. Ich erkläre es Ihnen. Sie laden ihre Bilder hoch. Da wird sich erstmal keiner für interessieren, weil die Masse an Bildern einfach zu groß ist. Nun fangen Sie an Bilder der anderen User zu kommentieren und zu bewerten. Beachten Sie bitte, dass diese User alle aus dem gleichen Grund in der F.C. sind wie Sie, alles arme verlorene Seelen die sich nach ein wenig Aufmerksamkeit und Wärme sehnen. Nun kommentieren Sie zuerst deren Bilder.“

„Äh, ich habe gar keine Ahnung von so was, was soll ich denn da schreiben?“

„Kein Problem, Sie erhalten ja unsere Anleitung, da steht alles drin. Hier auf Seite 5 finden Sie die Wörter, die Sie benutzen sollten. Beispiele sind ‚Schönes Bild‘, ‚Toll‘, ‚Klasse‘, ‚Wow‚, ‚Schönes Motiv‘ usw. Suchen Sie sich einfach etwas aus. Wenn Sie nach einiger Zeit etwas erfahrener sind, dürfen Sie auch eigene Wörter wählen, aber Vorsicht,“ nun schaute er sehr ernst, „keine Kritik in jeglicher Form. Das ist absolut tabu und kann Ihnen Ihre Mitgliedschaft kosten.“

Hmm, von dieser F.C könnte Kurt der Präsident sein. „Ok, habe ich verstanden, aber bewerten? Ich habe überhaupt keine Ahnung von Technik oder Gestaltung. Ich kann kein Bild bewerten.“

„Das ist doch noch viel einfacher als das Kommentieren. Sie haben die Möglichkeit 1 bis 3 Sterne zu vergeben. 3 Sterne sagt, dass es sich um ein ganz besonders tolles Bild handelt. Weiterhin können sie eine Bewertung von 1 bis 10 Punkten für die Bereiche Idee, Gestaltung, Technik und künstlerische Ausdruckskraft geben.“

Was für ein Blödsinn. „Das schaffe ich nie.“

Dr. Pinsel-Bauch lächelte mich nur an und sagte: „Ist ganz einfach, Sie geben grundsätzlich immer 3 Sterne und bei der Bewertung die Höchstpunktzahl 10.“

Ach ja, das ist simpel.

„So, und nun gehen Sie einfach viele Bilder durch und bewerten und kommentieren möglichst ein Bild pro Minute, damit Sie auf eine hohe Zahl Kommentare kommen.“

„Aber in einer Minute habe ich das Bild ja kaum wahrgenommen.“

„Wen interessiert das? Unsere besten User machen zwei Bilder pro Minute.“

„Und was mach ich, wenn mir ein Bild gar nicht gefällt?“

Dr. Pinsel-Bauch seufzte. „Sie sind aber ein schwerer Fall. Verstehen Sie immer noch nicht, es geht nicht um Ihre ehrliche Meinung, es geht darum, dass Sie etwas Nettes sagen. Was glauben Sie, was der User am anderen Ende denkt, wenn Sie unter seinem Bild schreiben ‚Wow, tolles Bild‘ und dazu 3 Sterne und 10 Punkte vergeben?“

„Öh, er hält mich für einen riesigen Schleimer?“

„Neinnein, ganz falsch, er ist entzückt, er freut sich, und er denkt sich, ‚Was für ein netter User, dem muss ich auch mal einen Kommentar geben.‘ Und nun geht er auf eins Ihrer Bilder und schreibt dort als Kommentar ‚Wow, tolles Bild‘. Dazu erhalten sie 3 Sterne und 10 Punkte. Und was passiert nun mit Ihnen?“

Ich musste aufpassen was ich sagte, denn ich war ja hier als frustrierter, armer, kleiner Wicht, der ein wenig Aufmerksamkeit möchte. Also überlegt antworten.

Ich setzte ein Strahlen auf und sagte. „Ich freue mich darüber und fühle mich gut.“

Dr. Pinsel-Bauch ließ sich in seinen Sessel fallen. „Na also, jetzt haben Sie kapiert um was es hier geht.“

„Und ich erhalte jetzt von jedem User den ich kommentiert habe auch einen Kommentar?“

„Nein, das klappt noch nicht richtig. Sie müssen sich eine so genannte ‚Buddy-Liste‘ anfertigen. Dort nehmen Sie einfach jeden auf, der ihnen einen guten Kommentar gegeben hat. Sobald er ein neues Bild hochlädt, bekommen Sie darüber Bescheid und können dies dann kommentieren. Er macht das Gleiche bei Ihnen.“

Ich schaute ihn etwas zweifelnd an. „Aber wenn man alle Bilder immer nur in den Himmel lobt, und das noch nicht mal ehrlich gemeint ist, dann ist der Lerneffekt doch gleich Null?“

Dr. Pinsel-Bauch rückte über seinem Schreibtisch etwas näher zu mir und sagte in einem ruhigen Ton: „Wozu sind Sie hierhergekommen, weil sie fotografieren wollen oder weil Sie Streicheleinheiten brauchen?“

Ich überlegte kurz und meinte dann: „Wer interessiert sich schon für Fotografie.“

Dr. Pinsel-Bauch lehnte sich wieder zurück. „Na also. Wir hätten das auch mit jedem anderen Hobby machen können, aber es ist einfacher Fotos hochzuladen als Skulpturen, Malereien oder Briefmarken.“

Dr. Pinsel-Bauch stand auf und lief durch den Raum. „Und nun stellen Sie sich vor wie Sie sich fühlen, wenn Sie täglich Lob für ihre Bilder bekommen, wenn Sie woanders erzählen können, dass Sie immer nur die Höchstpunktzahl erhalten. Wenn sie vielleicht sogar mal Fotograf des Monats werden.“

„Fotograf des Monats?“

„Ja, wenn Sie besonders fleißig sind und viele Kommentare geben und erhalten, dann bekommen Sie von uns Punkte. Und am Ende der Woche wird dann jemand Fotograf des Monats. Na, wie hört sich das für Sie an? Wäre das nicht toll? Wo soll denn da noch Platz für Frust sein?“

„Eine Sorge habe ich da noch.“

„Hier gibt es keine Sorgen, wir haben für alles vorgesorgt.“

„Ja, aber was ist denn, wenn da wirklich mal jemand seine ehrlich Meinung äußert und mir die nicht gefällt. Wenn ich vorher nur Lob erhalten habe, dann reißt mich das ja wieder ziemlich runter.“

„Überhaupt kein Problem, es gibt einen IGNORE-Button, den drücken Sie dann einfach und dieser User kann Ihnen nie wieder einen Kommentar geben.“

„Aber sein Kommentar bleibt da erstmal stehen wie ein Stück Dreck.“

„Auch kein Problem. Löschen Sie das Bild und laden Sie es neu hoch, dann ist der Kommentar weg.“

„Ist ja super, ich glaub, ich fühle mich schon jetzt besser.“

Dr. Pinsel-Bauch lächelte zufrieden. „Dafür machen wir das ja. Sie sollten nur immer schön fleißig fotografieren. Zehn Bilder dürfen Sie pro Tag hochladen und das sollten Sie auch nutzen. Und wenn Sie mal keine Zeit zum kommentieren haben, dann verteilen Sie einfach Sterne ohne Ende.“

„Äh, aber was soll ich denn den ganzen Tag fotografieren?“

„Ist doch egal, glauben Sie, da machen sich die anderen User Gedanken drum? Nehmen Sie sich Ihr Mittagessen und machen davon 10 Fotos. Gehen Sie in den Garten und fotografieren 10 mal ihre Tulpen. Setzten Sie sich vor ihre Katze und drücken 10 mal ab. Hier zählt Masse und nicht Klasse.“

Junge, junge, was für ein Verein.

Dr. Pinsel-Bauch wurde jetzt etwas ernster und meinte: „Eines ist jedoch sehr, sehr wichtig. Ihre Selbstkritik wird auf Null zurückgehen, Sie werden den Eindruck erhalten, dass Sie zu den besten Fotografen gehören. Das ist gut so und gehört zur Therapie, aber machen Sie ja nicht den Fehler und zeigen Ihre in der F.C. gekrönten Bilder in einem Fotoclub oder noch schlimmer, bei d.r.f im Usenet. Von diesem Schock erholen Sie sich nie. Dafür haben wir noch kein Gegenmittel.“

Das kann ich mir gut vorstellen 🙂

Nun muss ich aber doch nochmal ein wenig provozieren.

„Eine Sache noch zu guter Letzt. Was wäre denn, wenn der Fall eintreten würde, dass mir das Fotografieren irgendwann Spaß macht und ich mich weiterentwickeln möchte. Also ich viel lieber offene, ehrliche Kommentare erhalten möchte, die mich auf Fehler hinweisen. Was, wenn ich mich darüber freue und nicht mehr frustriert bin?“

Dr. Pinsel-Bauch lächelte, beugte sich zu mir runter und sagte mir sanfter Stimme: „Dann sind Sie geheilt und brauchen die F.C. nicht mehr. Die Therapie ist dann zu Ende.“

„Ist das schon mal vorgekommen?“

„Oh ja, sicher. Es gibt aber auch die ganz schweren Fälle, wie z. B. unser aktueller Fotograf des Monats. Er hat alle Rekorde im Kommentieren pro Minute gebrochen, setzt aber immer mehr User auf IGNORE, wenn nicht zumindest drei Wörter aus unserer Lobeshymnen-Anleitung im Kommentar enthalten sind. Wenn er so weitermacht, dann hat er bald niemanden mehr zum kommentieren.“

Er zeigte auf eine Wand. Dort hingen die Fotografen des Monats der vergangenen zwei Jahre. Und wer glaubt ihr strahlt mich da vom aktuellem Monat an? Na klar, Nachbar Kurt. Ist ja ’n Ding.

Ich bedankte mich bei Dr. Pinsel-Bauch und machte mich auf den Weg ins Fischrestaurant. Aber heute Nachmittag werde ich Kurt noch einen Besuch abstatten und mir freiwillig seine letzten Bilder anschauen und kommentieren. Ich glaub, der braucht mal eine Schocktherapie. Als guter Nachbar muss man doch seine Hilfe anbieten. 🙂

😉

Thomas Tremmel