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Fotografisch Sehen

Riesenausrüstung, Fachwissen ohne Ende und trotzdem geben die Bilder nichts her? Vielleicht ist ja dieser Artikel hilfreich.

Kennen Sie das auch? Traumhafter Urlaub in einer wunderschönen Landschaft. Schnell die Kamera gezückt und die Landschaft für die Daheim gebliebenen fotografiert, damit auch diese sich an der Landschaft begeistern können.

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Schwääääärm* Könnt da sofort wieder hin, so begeistert mich das Bild. Wie, euch nicht?

Sie haben sich das Bild als Poster vergrößern lassen und es sich Zuhause an die Wand gehängt. Wenn Sie das Bild sehen, erinnert es Sie an die großartige Landschaft, Sie können quasi die frische Luft riechen, die Vögel hören. *Seufz*, was für ein schööööönes Bild.

Voller Stolz auf ihr Bild zeigen Sie dieses Ihren Freunden. Der erste sagt: „So trostlos sieht’s bei uns um die Ecke auch aus.“ Der zweite sagt: „Schrottbild.“ Und ihr bester Freund sagt: „Kann ich nichts mit anfangen.“

Klatsch!

Kennen Sie? Dachte ich mir. Die Schleimer „Äh, ja, sehr schönes Bild *Schluck*, ganz toll gemacht. Kann ich mir jetzt dein Auto ausleihen?“ habe ich mal nicht berücksichtigt.

Gibt es doch nicht. Mich berührt das Bild ohne Ende, und die zucken nur mit den Schultern und es lässt sie komplett kalt?

Was nu? 

Es gibt zwei Möglichkeiten:

  1. Möglichkeit

Die haben überhaupt keine Ahnung oder sind neidisch. Moment mal, der beste Freund sagte: „Kann ich nichts mit anfangen.“ Passt doch nicht, oder? Geschmacksache, genau, Bildbetrachtung ist immer subjektiv und somit Geschmacksache. Ja, eine feine und oft (sehr oft) benutzte Erklärung. Wenn Sie auch dieser Meinung sind, können Sie hier schon aufhören zu lesen. Ihre Erklärung heißt einfach immer, das ist Geschmacksache.

  1. Möglichkeit

Sie machen sich Gedanken, warum das Bild bei Ihren Freunden nicht die gleiche Bildwirkung hat wie bei Ihnen. Warum riechen sie die frische Luft nicht? Warum  hören sie die Vögel nicht, warum sehen sie die großartige Landschaft nicht?

Ganz einfach, Ihre Freunde waren nicht dabei.

Das Bild ist bei Ihnen eigentlich nur der Funke, der Ihre Erinnerungen an den Urlaub weckt. Deshalb können Sie die Geräusche und Gerüche wahrnehmen, sich die Landschaft noch mal vor ihren Augen aufbauen. Das alles sehen Sie in diesem Bild. Ihre Freunde haben diese Erinnerungen nicht, sie sehen nur das Bild und können es mit nichts in ihrem Gehirn verbinden.

Wenn Sie ihren Leuten also die fantastische Landschaft, die tolle Stimmung zeigen wollen, dann muss das ausschließlich von Ihrem Bild kommen. Sich in die Landschaft zu stellen, mal kurz abknippsen, das reicht nicht. Es ist alleine Ihre Sache, das Bild so zu gestalten, dass Ihre Freunde beim Betrachten des Bildes eine von Ihnen gewollte Bildwirkung aufnehmen.

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Für die Umsetzung der gewollten Bildwirkung ist alleine der Fotograf zuständig.

Dafür ist aber eine Sache Grundvoraussetzung. Sie müssen über etwas verfügen, Sie müssen das „Fotografisch Sehen“ erlernen.

Das Fotografische Auge 

Bevor wir zum Fotografischen Sehen kommen, wollen wir aber eben klären, was das Fotografische Auge ist. Es ist eigentlich ganz einfach, wenn man das Äquivalent zum menschlichen Auge sucht. Bei der Kamera ist dies das Objektiv. Und wie das Gehirn die Signale des Auges verarbeitet, so ist das in der Kamera der Chip oder der Film.

Es sollte klar sein, dass das Bild, welches das Auge aufzeichnet und in unserem Gehirn präsentiert wird, von vielen Faktoren beeinflusst wird. Unsere Wahrnehmung hat einen erheblichen Einfluss auf dieses Bild. Alles was unwichtig ist, wird rausgefiltert. Sind Sie Brillenträger und sehen die Ränder Ihrer Brille? Nein, natürlich nicht. Erst wenn Sie sich drauf konzentrieren, nehmen Sie die Ränder wahr. Sie sind kein Brillenträger? Ok, was ist mit ihrer Nasenspitze? Nehmen Sie diese wahr? Aha, erst wenn Sie sich drauf konzentrieren.

Und was ist bei einem schönen Sonnenuntergang? Was sehen Sie, wenn Ihre Erinnerung das Bild abspielt? Die Sonne, das Meer, den Strand, die Wellen. Soso, und was ist mit dem Mülleimer links, der alten Feuerstelle rechts, Ihre mit Cola vollgekleckerte Hose? Sie empfinden subjektiv.

Das alles kann das Objektiv und der Chip nicht. Die Kamera arbeitet rational. Alles was das Objektiv sieht, zeichnet der Chip auch auf, und noch schlimmer, kommt auch aufs Bild. Ihre persönliche Erinnerung zeigt Ihnen nur das, was Sie auch wahrnehmen wollten, das Bild ist da anders, es zeigt alles.

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Warum ich die blöde blaue Wand der Toilettenhäuschen mit fotografiert habe? Weiß der Geier, ich hab’s auch erst Zuhause gesehen. Natürlich ist das Bild dadurch für die Tonne.

So wirkt ein Bild schnell überladen und es kann beim Betrachter kein Gefühl der Harmonie bei der Bildbetrachtung aufkommen, weil, anders als bei unserer Wahrnehmung, das Bild eben alles zeigt. Stellen Sie sich doch einfach mal vor, Sie müssten Beethovens Symphonien alle gleichzeitig hören. Das wäre dann keine Musik mehr, sondern nur noch Lärm. Schrecklich, oder?

Und es kommt noch schlimmer. Ein uninteressantes Nebenmotiv, z. B. ein roter Ball, wird von ihrer Wahrnehmung gar nicht wirklich registriert und deshalb auch kaum in der Erinnerung gespeichert. Die Kombination Objektiv-Chip ist da anders, sie zeichnet dieses Nebenmotiv auf. Und nun kann es passieren, dass z. B. dieser Ball auf dem Bild mehr Gewicht erhält als ihr Hauptmotiv, und die gewollte Bildwirkung zerstört.

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Mal ehrlich, die Glocke in der Mitte ist ja wohl der Hammer, oder? Wie jetzt, welche Glocke?

Da fällt mir ein, wir Menschen haben ja zwei Augen, damit wir räumlich sehen und Tiefe abschätzen können. Na prima, das kann die Kamera mit ihrem einen Objektiv natürlich nicht. Soll heißen, im Bild fehlt uns die 3. Dimension und damit ein wichtiges Mittel zur Steigerung der Bildwirkung. Deshalb wirken viele Landschaftsbilder einfach nur platt. Und nu wird’s kompliziert. Um trotzdem Räumlichkeit und Tiefe in ein Bild zu bekommen, müssen wir die menschliche Wahrnehmung nutzen, ihre Schwächen und ihre Gewohnheiten kennen und das Bild entsprechen gestalten.

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Keine Sorge, es gibt da schon den einen oder anderen Trick um Tiefe in ein Bild zu bekommen

Puh, gar nicht so einfach, zu einem guten Bild zu kommen, oder? Aber das waren noch nicht alle Unterschiede zwischen der Einheit Auge/Gehirn und Objektiv/Chip. Und diese Unterschiede sind alles Probleme, die wir zu bewältigen haben, wenn wir zu unserer Bildwirkung kommen wollen.

Wie schön und schnell ist das Pferd über die Wiese geritten. Was schade, dass ein Bild immer ein Standbild ist. Bewegung ist nicht darstellbar.

Und wie schön die Sonne strahlt. Schade nur, dass diese Strahlen auf dem Bild später nur weiße ausgefressene Linien sind. Oder hat Sie schon mal ein Bild geblendet?

Und was ist mit der Schärfe? Mit unserem Augen sehen wir immer alles scharf. Aber ist auch alles scharf? Pustekuchen. Wir haben nur eine extrem schnelle Scharfstellung. Auch das Auge sieht nur den Bereich scharf, den wir anfokussieren, aber es fällt nicht auf. Und wie ist das mit dem Schärfebereich auf dem Bild? Genau, der Chip zeichnet auch die unscharfen Bereiche auf und stellt uns diesen auf dem Bild da.

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Aus einem vermeintlichen Nachteil, kann auch schnell ein gestalterischer Vorteil entstehen, wenn man weiß, wie man diesen für die Bildwirkung nutzt.

Und wie schön unser Gehirn weißes Licht auch immer weiß darstellt. Toller automatischer Abgleich der Farbtemperatur. Ok, die automatische Weißbalance bei Digitalkameras macht da schon eine relativ gute Arbeit, aber fragen Sie mal Analogfotografen. Ich kann das Stöhnen bis hier hören.

Stellen wir die Unterschiede zwischen Auge und Objektiv noch mal gesammelt da:

Auge/Gehirn Objektiv/Chip (Film)
3 Dimensionen 2 Dimensionen, keine Räumlichkeit/Tiefe
Bewegung ist wahrnehmbar Standbild
Licht strahlt Licht ist weiß
Auge sieht immer alles scharf Selektive Schärfe
Kontraste werden gut verarbeitet Hohe Kontraste sind ein Problem
Farbtemperatur wird automatisch angeglichen Farbtemperatur muss eingestellt oder korrigiert werden
Unterliegt der menschlichen Wahrnehmung Zeichnet alles auf
Leben; Geräusche, Gerüche usw.
Immer der gleiche Bildausschnitt Verschiedene Bildausschnitte durch verschiedene Brennweiten und dadurch verschiedene Wirkungen.
Subjektives Sehen Objektives Sehen

Es ist also sehr deutlich, dass das Kamerasystem gar nicht das wiedergeben kann, was wir gesehen haben.

Für mich war das Erkennen dieser Tatsache damals sehr hilfreich, denn es frustete mich zunehmend, dass meine Bilder so gut wie nie das wiedergeben haben, was ich selber gesehen habe. Auf der anderen Seite sah ich aber immer wieder fantastische Bilder von banalen Motiven oder auch großartige Landschaften.

Und was bedeutet jetzt Fotografisch Sehen? Fotografisch Sehen bedeutet, das Motiv so zu betrachten, wie es das Objektiv sieht und nicht das menschliche Auge. Beim Blick durch den Sucher bereits die Vorstellung zu haben, wie das fertige Bild aussieht. Die Unterschiede zwischen Auge und Objektiv zu kennen und dieses Wissen so anzuwenden, dass man trotz dieser Schwierigkeiten zu dem Bildresultat kommt, das man gerne haben möchte. Einen große Hilfe dabei ist das Stativ. Dabei kann man in Ruhe den Sucher absuchen und braucht sich erst Mal auf nichts anderes konzentrieren. Aus der Hand ist das nicht möglich. Da muss man gleichzeitig scharf stellen, belichten und das Bild aufbauen. Das beeinflusst natürlich unsere Wahrnehmung. Machen sie sich frei davon, dass ein Bild die Realität wiedergibt. Versuchen Sie lieber die Welt mit andern Augen, den Augen der Kamera zu zeigen.

Versuchen Sie nicht das vor ihnen liegende 1:1 abzufotografieren, sondern versuchen sie ihr Bild so aufzubauen, dass die von Ihnen gewollte Stimmung bzw. Bildaussage auch von anderen ersichtlich ist.

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Dieses Bild ohne Stativ? Keine Chance.

Dabei wünsche ich Ihnen viel Erfolg.

Gruß

Thomas Tremmel